Über die Gelassenheit – ein Dialog

Ich habe mit einem Freund einen schriftlichen Dialog über die Gelassenheit geführt. Seine Worte sind die des Damuero, meine die des Sempervirentz. Der Dialog kann hier als PDF heruntergeladen werden. Das sollte als Vorabinfo reichen. Gehen wir in medias res.

Sempervirentz: Was ist Gelassenheit? Über diese scheinbar einfache Frage, möchten wir hier sprechen. Natürlich haben wir alle eine ungefähre Vorstellung davon, was Gelassenheit ist, schließlich verwenden wird das Wort ganz selbstverständlich in der Alltagssprache. Wir assoziieren Ausgeglichenheit, Gemütsruhe, Beherrschtheit und vielleicht auch Coolness.
Begriffsgeschichte ist bei unserer Fragestellung nebensächlich. Trotzdem sei eingangs erwähnt, dass Gelassenheit nicht mit lassen im Sinne von seinlassen in Verbindung steht. Es ging aus dem Mittelhochdeutschen gelāʒen hervor, was so viel wie niederlassen und im übertragenen Sinne sich gottergeben bedeutete. Gottvertrauen steht historisch also in enger Verbindung mit Gelassenheit. Ich werde darauf zurückkommen. Zunächst aber schlage ich vor, dass wir uns der Sache ex negativo näheren. Meine erste Frage an dich lautet daher: Was sind Grenzfälle oder Zeichen ‚falscher‘ Gelassenheit?

Damuero: Es kommt auf den Kontext an, in dem man sich bewegt. Im geselligen Beisammensein mag es leicht sein, gelassen zu wirken. Ist man hingegen allein, rücken meist andere Gedanken in den Vordergrund. Vermeintliches Gelassensein verfliegt dann mitunter schnell. Öffentliche Coolness muss also nicht notwendigerweise mit echter Gelassenheit in Verbindung stehen.
Oft mag man allgemeine Passivität mit Gelassenheit verwechseln. Aber auch wenn es Schnittmengen gibt, sollte keineswegs jene Passivität gemeint sein, die durch Antriebslosigkeit und Lethargie verursacht wird. Ist es ein Zeichen von Gelassenheit, wenn man die täglichen Aufgaben im Beruf erst einmal ignoriert, nur um dann später in Hast zu geraten? Wohl kaum.
Was aber könnte das Gegenteil von Gelassenheit sein? Ich denke, die Antwort lautet Angst.

Sempervirentz: Ich denke, Angst trifft es nicht ganz. Ich verstehe Gelassenheit als Symptom. Angst hingegen ist ursächlich für Symptome wie innere Unruhe, Unrast oder Nervosität. Ich subsumiere sie unter dem Begriff Getriebenheit. Wenn Angst nun die Ursache für Getriebenheit ist, was ist dann die Ursache für Gelassenheit? Reicht das Fehlen von Angst schon aus, um gelassen zu werden?
Aber wir greifen voraus. Worin besteht denn das Gelassenheitssymptom? Du sagst, dass es keineswegs eine milde Form von Lethargie sein kann. Dem stimme ich zu. Ich denke auch, dass ein gelassener Mensch kein zielloser Mensch ist. Er hat Hoffnungen, Wünsche und Träume, die er abwägend verfolgt. Er hat sie im Blick, aber er macht sich nicht verrückt, wenn etwas dazwischen kommt. Gleichzeitig unterbindet es der Gelassene, jedem Reiz, der Ablenkung verspricht, nachzugehen. Auch Störreize bringen ihn nicht sofort aus der Ruhe. Erst dann, wenn diese überhand nehmen, widmet er sich diesen. Wenn er feststellt, dass er mit bestimmten Störfaktoren leben muss, dann akzeptiert er diese nach einer Weile und lässt sich nicht dauerhaft von diesen vereinnahmen. Du siehst, meine Anforderungen an den Gelassenheitsbegriff sind hoch.

Damuero: Die Aussage, dass Angst das Gegenteil von Gelassenheit sei, war ein recht spontaner Gedanke. Ich finde deine systematische Einordnung gut und verstehe deine Einwände. Nun sind wir uns ja darin einig, dass Angst eine entscheidende Rolle spielt. Daher möchte ich an dieser Stelle ein paar allgemeine Überlegungen zur Angst einfügen.
Angst ist nach meinem Verständnis eine Reaktion auf Vorgänge, die wir als bedrohlich interpretieren. Evolutionsbiologisch war sie sinnvoll, um bei spontan auftretenden Gefahren den Organismus rasch zu aktivieren und eine schnelle Reaktion zu ermöglichen. Ich habe irgendwo gelesen, dass ein Teil unserer zivilisatorischen Schwierigkeiten darauf beruht, dass dieser Mechanismus immer noch aktiv ist, aber aufgrund fehlender Gefahren und gleichzeitiger Überreizung der Sinne zu dauerhaftem Stress führt. Ein Beispiel: Ich sitze im Büro, und obwohl mir dort nichts Existenzielles zustoßen kann –  selbst im Falle einer Kündigung ist mein Lebensunterhalt gesichert – empfinde ich allerlei Einflüsse und Reize als bedrohlich und kann aufgrund des daraus resultierenden Dauerstresszustandes daran erkranken (siehe Burnout-Syndrom). Kurzum: Ursprünglich diente Angst als Retter in lebensbedrohlichen Situationen, heute ist sie innerhalb unseres materiell abgesicherten Lebens selbst zur Gefahr geworden. Der schlimmste Fall ist die Angst vor der Angst. Dann mündet der Mechanismus in einem absurden Kreislauf, der zu schwersten Störungen führt. Eine Randbemerkung an dieser Stelle: Laut Jordan Peterson ist Alkohol der Angstlöser schlechthin (von speziellen Medikamenten abgesehen). Auch der eigene Alkoholkonsum kann also eventuell Aufschluss über vorhandene Ängste geben.
Nun aber zu deiner Frage: Reicht das Fehlen von Angst aus, um gelassen zu werden? Ich denke, dass ein Mensch ohne Angst, oder besser: ein Mensch mit einem gesunden Verhältnis zur Angst, recht gute Chancen hat, gelassen zu sein. Hier müsste man überlegen, ob es noch andere Quellen für Getriebenheit gibt. Auch wenn vieles, was auf den ersten Blick nicht danach aussieht, auf Angst zurückführbar ist, so bleibt doch sicher das Verlangen als Ursache von Getriebenheit. Z.B. das Verlangen nach Geld, nach Sex oder nach Anerkennung. Vereinfacht könnte man sagen, es gibt eine Getriebenheit, um von etwas wegzukommen, und eine, um einer Sache näherzukommen. Nun zu deiner positiven Bestimmung der Gelassenheit. Diese geht über einen situativen Zustand hinaus und beschreibt den Wesenszug eines Menschen. Dieser Beschreibung kann ich mich durchaus anschließen. Sie erinnert mich an die aristotelische goldene Mitte. Gelassenheit als Tugend zwischen Getriebenheit und Gleichgültigkeit. Zusammenfassend kann man vielleicht sagen: Der Gelassene hat ein gesundes Verhältnis zu Angst und Verlangen.
Mit welchen Mitteln kann man Gelassenheit erreichen? Das ist vermutlich bei jedem Menschen etwas verschieden. Ich möchte aber trotzdem aufzeigen, was mir persönlich hilft.

  • Finde einen guten Umgang mit deinen Ängsten. Lerne das Gefühl der Angst auszuhalten: „Feel comfortable in the uncomfortable“ – der Kreislauf der Angst kann so durchbrochen werden.
  • Es scheint so, dass Shaolin-Mönche aufgrund ihrer physischen Abhärtung (durchaus auch im wörtlichen Sinne) weniger anfällig für Angst und Depressionen sind.
  • „Doubt is removed by action“: Ich erlebe regelmäßig, wie Unsicherheit und Ängste einfach abfallen, wenn ich aktiv werde und mich einer Tätigkeit widme. Untätiges Hadern ist der falsche Ansatz.
  • Sei dir über das bewusst, das dich antreibt. Ein gelassener Mensch weiß, was ihm im Leben wichtig ist. Er hat klare Ziele, auch wenn er sie vielleicht nicht explizit formuliert. Wenn ich ein klares Ziel habe und meinen Geist darauf ausrichten kann, wenn es mir nötig erscheint, lasse ich mich nicht so leicht ablenken.
  • Lebe gesund: viel Bewegung; ausreichend Schlaf und Ruhe; steuere welchen Einflüssen du deinen Geist und Körper aussetzt; esse gut und verzichte im Alltag auf Alkohol.
  • Schätze die Gesellschaft von Menschen und erlebe die Wohltat, sich zu öffnen, sich helfen zu lassen und anderen zu helfen.
  • Lebe dich aus: Tue die Dinge, die du immer tun wolltest; erlebe Neues, probiere dich aus.

Sempervirentz: Ich fange mal beim Biologischen an. Du hast Recht: Die Evolution der menschlichen Physiologie hält nicht Schritt mit den sich verändernden Umwelt- und Lebensbedingungen; Kulturgeschichte und Anthropogenese haben ein völlig unterschiedliches Tempo. Genetisch gesehen sind wir näher an der Steinzeit als an der Neuzeit. Vielleicht empfinden auch deswegen viele (insbesondere Männer) Aktivitäten wie Jagen, Fischen, Wandern oder auch Kampfsport als positiv, schließlich genügen sie dem Erbe als Jäger und Sammler. War ein Überschuss an Testosteron einst ein Überlebensvorteil, so kann er sich heute schnell ins Gegenteil verkehren. Ohne geeignete Kanalisierung der Triebe kommt der Hormonhaushalt aus dem Gleichgewicht und man läuft Gefahr, zum gestressten, frustrierten, ja ohnmächtigen Wesen zu werden. Viel Bewegung ist daher sicherlich ein ganz wichtiger Punkt, um sich in der modernen Welt gut fühlen zu können. Die richtige Ernährung ist gleichermaßen wichtig. Aber auch hier ist eine genetische Verschiebung nachweislich vorhanden. Zwar haben sich Anpassungen vollzogen – anders als Asiaten können Europäer z.B. mehrheitlich Milchzucker verdauen – aber Probleme durch Laktose oder Gluten sind trotzdem weit verbreitet, da in der vorsesshaften Vergangenheit Milch und Getreide nicht Teil der üblichen Ernährung waren.
Ich stimme mit dir auch darin überein, dass sich Getriebenheit aus verschiedenen Typen ergeben kann. Typ 1 wäre vermeidend (Angst vor / um etwas), Typ 2 zielgerichtet (Verlangen nach etwas). Gibt es vielleicht noch einen dritten, ungerichteten Typus, der basale Instinkte wie den Überlebenstrieb umfassen könnte? Was meinst du? Zudem könnte man noch unterscheiden zwischen instinktiven, individuellen und kulturell geprägten Formen, wobei hier sicherlich auch Mischformen möglich wären.
Angst kann sich, wie du sagst, in einem Zirkel selbst verstärken. Das ist eine wichtige Erkenntnis, auf die ich auch aufgrund persönlicher Erfahrungen kurz eingehen möchte. Ein großer Teil meiner Angst ist tatsächlich ‚Meta-Angst‘. Ich habe beinahe mehr Angst vor zwanghaften Verhalten als vor den Dingen, die dieses begründen. Zwanghaftigkeit nagt an den Fundamenten des Selbstbewusstseins, da man in solchen Zuständen den Eindruck hat, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Die Angst vor Kontrollverlust wäre also ein weiteres Beispiel, bei der eine völlige Entkopplung von der eigentlichen Funktion vorliegt.
Darüber, dass Alkohol ein Angstlöser ist, besteht kein Zweifel. Die weltweite Beliebtheit spricht für sich. Natürlich löst er keine Probleme, man kann sich höchstens etwas Zeit kaufen, kurze Stunden der Ausgelassenheit, wobei dies natürlich etwas völlig anderes ist als Gelassenheit. Ich möchte hier den Alkohol nicht verteufeln. Das wurde an anderer Stelle schon so oft gemacht und kann überall nachgelesen werden. Ich persönlich denke, dass er maßvoll in Gesellschaft genossen, das Leben durchaus bereichern kann.
Nun aber zum Kern des Ganzen. Ganz genau, werter Damuero, der Gelassene hat ein gesundes Verhältnis zu Angst und Verlangen. Er ist keineswegs frei davon, so wie es Dritte manchmal von sogenannten „Erleuchteten“ behaupten. Auch Diogenes von Sinope war nicht frei davon. Sein Ansatz bestand darin, seine Triebe auf möglichst einfache Art zu befriedigen und ansonsten über andere zu spotten und mehr oder weniger tatenlos zu bleiben. Das von ihm überlieferte Bild ist für mich eher eine Karikatur des gelassenen Menschen.
Das Negieren des Willens, um Gleichmut zu erreichen, die Geringschätzung weltlicher Dinge, asketische Ernährung, diese Jesus-Attitude, all das hat mich zwar immer irgendwie beeindruckt, aber ich habe für mich festgestellt, dass ich dafür nicht gemacht bin. Es ist genau genommen ja auch widernatürlich. In der Evolution haben sich Verstand und Sprache durchgesetzt, weil sie einen Überlebensvorteil boten, nicht weil Homo damit über die Bedingungen der eigenen Existenz nachdenken konnte. Ich gebe zu, dass mir letzteres zwar Freude bereitet, aber ein konsequenter Philosoph, der seine Einsichten eins zu eins lebt, werde ich vermutlich nie. Seien wir ehrlich: Bei den entscheidenden Lebensfragen kommt die Philosophie seit der Antike kaum weiter – und glücklich macht sie nur wenige. Nun bin ich bin ein bisschen abgedriftet. Aber es wirft vielleicht etwas Licht auf die Frage, wie viele Lebensregeln man sich zumuten kann, ohne daran zu verzweifeln.
Noch ein Wort zu Schriften, in denen dargelegt wird, dass Gedanken, Träume und Hoffnungen eine Materialisierung nach sich ziehen. Nach dem Prinzip: Wer an sich glaubt, der wird Erfolg haben. Wer zweifelt, wird von seinen Zweifeln eingeholt. Das Leben als selbsterfüllende Prophezeiung. Ich möchte das nicht in Grund und Boden reden. An sich zu glauben, ist meistens hilfreich. Aber für mich ist ein solches Konzept unzureichend, nicht nur weil es voraussetzt, dass man seine Gedanken in hohem Maße kontrollieren kann, sondern auch, weil mich die Vorstellung, man habe sein Schicksal weitestgehend in der eigenen Hand, überhaupt nicht überzeugt.
Das Schlusswort möchte ich nun dir überlassen. Nicht ohne vorher zu verraten, dass mir manchmal tatsächlich so etwas wie Gottvertrauen dabei hilft, nicht völlig die Orientierung zu verlieren. Es ist dies der Glaube, dass sich die Dinge schon irgendwie zum Guten fügen werden. Für mich persönlich ist es also durchaus sinnvoll, die ursprüngliche Bedeutung von Gelassenheit mitzudenken.

Damuero: Du hast viele Punkte angesprochen und da es meine letzte Antwort sein soll, kann ich nicht auf alle angemessen eingehen. Zu den Typen der Getriebenheit: Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen finde ich interessant, vor allem auch wenn man sich damit beschäftigen möchte, was in einer Gruppe oder Gesellschaft zu mehr Gelassenheit führen könnte. Aber wie du andeutest, ist eine scharfe Trennung wohl oft nicht einfach. Für meine persönliche Situation halte ich die Unterscheidung für nicht so relevant. Den Überlebenstrieb würde ich beispielsweise nicht hinterfragen, nur um gelassener zu sein.
Passend zu deinem Ausflug in die antike Philosophie habe ich mich in der Zwischenzeit etwas intensiver mit den Stoikern beschäftigt. Ich teile deine Einschätzung von Diogenes. Auch wenn er inspiriert, die eigenen Lebensgewohnheiten und Konventionen zu hinterfragen, dient er mir kaum als Vorbild für ein glückliches Leben. Die Stoiker, die wohl von den Kynikern beeinflusst waren, sind doch vielmehr dem produktiven Leben in der Gesellschaft zugewandt. Von ihnen habe ich einiges über Gelassenheit gelernt, aber das würde hier zu weit führen. Zusammenfassend kann ich sagen, dass sich mein Verständnis der Gelassenheit so gewandelt hat, dass ich sie nicht nur als bewusst herbeigeführte innere Haltung, sondern als Resultat eines angemessenen Umgangs mit den eigenen Bedürfnissen und Zielen verstehe. Zumindest im stoischen Sinne erfordert Gelassenheit Disziplin und Ordnung. Daher muss ich dir an dieser Stelle auch widersprechen: Die praktische Philosophie kann durchaus glücklicher und zufriedener machen. Bei der Beschäftigung mit der Frage, inwiefern der eigene Erfolg von den eigenen Gedanken abhängt, stehe ich noch ganz am Anfang, es gibt aber aus meiner Sicht Hinweise, dass doch einiges dafür spricht. Aber vielleicht wäre das ein gutes Thema für einen neuen Dialog. Abschließend kann ich dazu sagen, dass man vielleicht nicht die Ereignisse des eigenen Lebens völlig in der eigenen Hand hat, aber doch, wie man damit umgeht. Und damit wären wir wieder bei der Gelassenheit.